Interview mit Shemsu Abdella Sultan – Findung und Orientierung als Gruppe
Unser Verein heißt Beteseb – Äthiopier und Freunde Äthiopiens Leipzig e.V. “Beteseb” ist Amharisch und bedeutet Familie. Wir sind in Leipzig tätig und haben mittlerweile ca. 60 Vereinsmitglieder, wobei sich derzeit nur drei bis vier Mitglieder aktiv engagieren. Aufgrund von Sprachbarrieren, Zeitmangel und den Hürden des Alltags ist es für viele Mitglieder schwierig, sich so zu engagieren wie sie es gern täten und es auch notwendig wäre. Wenn wir allerdings große Veranstaltungen wie z. B. das äthiopische Neujahrsfest am 11. September organisieren, sind fast alle mit dabei!
In unserer Vereinsarbeit unterstützen wir hauptsächlich bei Behördengängen, im Kontakt mit Ämtern oder Schulen, wir begleiten bei Arztbesuchen und fungieren als Dolmetscher*innen. Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, unseren äthiopischen Freund*innen nicht nur dabei zu helfen, ihre Rechte einzufordern, sondern ihnen auch zu erklären, welche Pflichten man hat, wenn man in Deutschland lebt. Wir versuchen zu vermitteln und zu unterstützen, damit die Menschen einen Überblick haben und am Ende selbst eine Entscheidung treffen können.
Vor der Vereinsgründung haben wir uns von Zeit zu Zeit in einem äthiopischen Café getroffen, ausgetauscht und gegenseitig unterstützt. Aber das war nicht koordiniert, wodurch oft viel Zeit verloren ging und teilweise wichtige Fristen nicht eingehalten wurden. Da wurde mir klar, dass wir eine organisierte Struktur brauchten, um besser helfen zu können. Und so gründeten wir einen Verein. Diese Gruppe war, wie man so schön sagt, eine bunte Mischung: Einige waren, wie ich, zu DDR-Zeiten aus Äthiopien nach Deutschland gekommen. Also seit über dreißig Jahren in Leipzig und mit den Gesetzen, Regeln und der Sprache vertraut. Es gab aber auch Menschen, die neu nach Deutschland gekommen waren. Nicht nur aus Äthiopien, auch aus Somalia und Eritrea zum Beispiel. Der Jüngste war Anfang Zwanzig, der Älteste wohl über 50 Jahre alt.
Das Erste, was wir taten, war lesen. Keiner der Beteiligten hatte Vorerfahrungen in der Vereinsgründung. Also haben wir gelesen, um zu erfahren, was wir für einen Verein benötigten. Aber die Theorie ist das Eine und die Praxis etwas Anderes. Das Ziel war zwar das Gleiche, aber über den Weg dorthin waren wir uneinig. Das unter einen Hut zu bekommen, war eine diplomatische Kunst. Das muss ich ehrlich zugeben. Man musste Überzeugungsarbeit leisten, um die Vorschläge zu einem bestimmten Thema zu reduzieren, um dann eine Entscheidung treffen zu können. Manchmal war dieser Prozess sehr frustrierend und nach diesen stundenlangen Diskussionen um Details gab es auch Momente, in denen wir gedacht haben, wir machen am besten einfach in der Gruppe weiter wie bisher, ohne Verein. Es war ein Lernprozess, in dem viel Überzeugungsarbeit geleistet und Vertrauen aufgebaut werden musste. Nach ein paar Monaten lief das dann besser und Entscheidungen konnten schneller getroffen werden. Sonst hätte ich nicht weitergemacht. Denn wenn du dich nach der Arbeit mit fünfzehn Leuten triffst, um beispielsweise einen Brief vom Notar zu beantworten und du diskutierst dann stundenlang und am Ende ist der Brief immer noch nicht beantwortet, dann ist das frustrierend! Man braucht Geduld und Gelassenheit und sollte Entscheidungsprozesse nicht zu verbissen führen. Man sollte sich auf die wesentlichen Punkte verständigen, die die Basis für die Vereinsarbeit bilden. Es ist ratsam, keine Zeit mit Fragen zu vergeuden, die auch später geklärt werden können. Das ist herausfordernd und es funktioniert auch nur, wenn man sich als Gruppe einigt, wie solche Gruppendiskussionen ablaufen [mehr zu Vereinsmanagement findet sich HIER].
Allen, die einen Verein gründen wollen, empfehle ich Hilfe von Migrant*innenorganisationen anzunehmen. Diese Ratschläge sind unentbehrlich. Das hatten wir nicht, deshalb haben wir auch länger gebraucht. Eine weitere Herausforderung war es, seine Ziele zu konkretisieren. Nicht nur in Bezug auf Gesetze und Regelungen, sondern in Bezug auf die Frage, was wir mit unserem Verein erreichen wollen. Es ist wichtig, am Anfang die Ziele zu konkretisieren und sie klar zu formulieren, damit jeder weiß, was damit gemeint ist. Ansonsten sind Konflikte vorprogrammiert. Das Wichtigste bei der Vereinsgründung und dem Sich-Finden als Gruppe ist Geduld. Geduld. Geduld. Zum einen. Und zum anderen das Zuhören. Man sollte Mitglieder nicht unterschätzen, die vielleicht die Sprache nicht beherrschen oder sich mit Gesetzen nicht auskennen. Sie haben auch Ideen. Deshalb zuhören, notieren, sammeln und sortieren! Auch, wenn eine gewisse Hierarchie im Verein natürlich auch sinnvoll ist. Und Eitelkeit ist fehl am Platz, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen! Man sollte nicht alles auf eine Person ausrichten, sondern auf mehrere Schultern verteilen. Für eine One-Man-Show braucht man keinen Verein. Menschen kommen und gehen, aber der Verein sollte weiterbestehen!
Für uns war die Vereinsgründung ein wichtiger Schritt zur Professionalisierung. Auch in Bezug auf die Außenwahrnehmung. Ich bin sehr stolz, wenn ich jetzt zum Beispiel bei Ämtern Termine habe und sage, dass ich vom Verein Beteseb komme und dass das für viele ein Begriff ist. Wir sind vernetzt! Mit anderen Vereinen und Organisationen oder der Stadt.
Ich bereue es auch keine Sekunde, dass ich so viel Arbeit in diesen Prozess gesteckt habe. Man fühlt sich jetzt wie ein Familienmitglied. Wenn wir zum Beispiel bei unserem Neujahrsfest zusammenkommen, ist es wirklich herzerwärmend zu sehen, dass alle dabei sein wollen. Es ist wirklich wie eine große Familie. Und das war ja von Anfang an auch das Ziel. Deshalb haben wir uns diesen Namen gegeben. Für mich ist das nicht mehr wegzudenken.
Verein, das heißt für mich… Leben.
Steckbrief
Name
Beteseb – Äthiopier und Freunde Äthiopiens Leipzig e.V.
Adresse
Zweinaundorfer Str. 151
04316 Leipzig
Kontakt
info@beteseb-leipzig.de
https://www.beteseb-leipzig.de
Vereinsgründung
02/2019
Zielgruppe
Äthiopische Community, Interessierte Leipziger:innen
Inhaltliche Schwerpunkte
Unterstützung bei Behördengängen (Hilfe zur Selbsthilfe), Integrationshilfe und Vermittlung, Kulturförderung